Meine Finger zittern vor der Kälte, weil ich beim Arbeiten gerne das Fenster offen lasse. Ich schließe das Fenster, wickele einen Schal um meinen Hals und vergrabe meine Finger darin, damit mir schnell warm wird. Ich schaue auf meine Fingerspitzen während ich sie anhauche, entgleite dem Hier und Jetzt und lange Vergangenes kehrt in mein Bewusstsein zurück.
Damals,
an jenem Morgen, hatten meine Finger auch gezittert. Ich erinnere mich
nicht mehr, warum ich zu spät zur Schule kam – war ich unkonzentriert?
Oder war meine Mutter schuld, da sie es versäumt hatte mich rechtzeitig
zu wecken? Ich weiß es nicht genau.
Ich
ging in die fünfte Klasse der Grundschule und war eine überragende
Schülerin, die Lieblingsschülerin meine Lehrerin Fadwa. In den Pausen
ließ sie mich bei ihr bleiben, und während die anderen Mädchen draußen
spielten, half ich ihr, die Hausaufgaben und Klassenarbeiten zu
korrigieren. Sie vertraute mir und warf nur einen flüchtigen Blick auf
die Bewertungen, die ich in rot neben die Antwort geschrieben hatte.
Dann zählte sie die Punkte zusammen und schrieb das Endergebnis unter
die Klassenarbeit.
An
jenem Morgen kam ich zu spät und fand mich einer Vertretungslehrerin
gegenüber. Mit finsterem Gesicht befahl sie mir, stehenzubleiben, und
begann mich wegen meines Zuspätkommens auszuschimpfen. Dabei war ich nur
paar Minuten zu spät, was bei uns Mädchen in der fünften
Grundschulklasse dauernd vorkam. Unterwürfig blieb ich stehen und ließ
ihre Standpauke über mich ergehen. Dann forderte sie mich auf, meine
Hand auszustrecken, um meine Strafe in Form von Stockschlägen zu
erhalten.
Ich war schockiert und blickte meine Mitschülerinnen hilfesuchend an, aber es gab kein Entkommen. Das Gesicht der Vertretungslehrerin Nezha war schweissnass vor Wut als sie mir drohte, dass mich weitere Stockschläge erwarten würden, sollte ich das Ausstrecken der Hände weiter hinauszögern.
Ich
streckte meine Hand aus und begann noch vor dem ersten Schlag zu
weinen. Meine Hände waren eiskalt und die Schläge fühlten sich wie
Elektroschocks an. Ich
weinte wegen des Schmerzes, aber noch mehr weinte ich wegen des Schocks
und der Demütigung. Während ich noch zu meinem Platz zurückging, trafen
weitere verspätete Schülerinnen ein, die allesamt den Stock der
Vertretungslehrerin zu spüren bekamen.
Nezha
hatte am Tag der Übernahme unserer Klasse entschieden, uns nach ihrer
Art zu erziehen: Zu Gehorsam und Unterwürfigkeit. Noch lange begleitete
mich dieses Gefühl des Unrechts, dass ich an jenem Tag empfunden hatte.
Es war der erste Schlag auf meine kalte Hand.
In
der Grundschule hatten wir eine Lehrerin für alle Hauptfächer, und eine
weitere Lehrerin für die sogenannten Erholungsfächer, wie Zeichnen und
Sport. Der Unterricht in diesen Fächern fiel meistens aus, statt dessen
wurden der Stoff der Hauptfächer unterrichtet. Es war Fadwa, unsere
Lieblingslehrerin, die in solchen Fällen einsprang. Sie war unsere
einzige wirkliche Lehrerin, nur sie konnte uns einschätzen und sehr
selten kam es vor, dass sie uns bestrafte. Zwar machte sie manchmal
Anstalten, uns mit dem Stock zu schlagen, lachte dann aber, wenn eine
von uns ängstlich die Hand ausstreckte, und bestrafte uns doch nicht.
In der Mittelschule lernten wir schlimmere Arten der Bestrafung kennen, und mussten feststellen, wie sanft es in der Grundschule noch zugegangen war.
Dort
gab es viele Lehrerinnen, eine für jedes Fach: Sport, Physik,
Geschichte, religiöse Erziehung, Heimatkunde, … Dort lernte ich ein Fach
kennen, welches meine Vorstellungen von Unterricht und Schule auf den
Kopf stellte: Militärische Erziehung. Es gab spezielle Lehrer für dieses
Fach, die sogenannten Jugendausbilder.
Sabah
war die erste Jugendausbilderin, die ich in meinem Schulleben kennen
lernte. Ich hatte gedacht, sie würde mich bevorzugt behandeln, weil ich
aus ihrem Viertel komme. Wir lebten in der gleichen ärmlichen Gegend, in
der es keine Mittelschule gab. So kam es, dass ich die Al-Nil Schule
besuchte, auf die Mädchen wohlhabender Viertel gehen.
Sabahs
Art, den Klassenraum zu betreten, hatte etwas furchteinflößendes.
Allein der Klang ihrer kräftigen Stimme genügte, um uns vor Angst
zittern zu lassen. Beim morgendlichen Fahnenappell brauchte sie kein
Mikrophon um die Masse der Schülerinnen in Schach zu halten. Immer
wieder sagte sie “stillgestanden” und “rührt euch”, zwei Worte an deren
ständige Wiederholung wir uns im Laufe der Jahre gewöhnt hatten, jeweils
mit den dazugehörigen Bewegungen unserer Füße.
Ich
selbst wurde von Sabah nie bestraft, hatte aber Angst, als ich meine
Freundin Aruba vor Schmerzen weinen sah, während sie über den Schulhof
kroch. Ihre Hose war an den Knien durchgescheuert und ein wenig Blut war
zu sehen. Nie wieder sah ich Aruba so gebrochen, wie an diesen Tag.
Ausgerechnet sie, die sich für etwas Besseres hielt, weil sie in einer
Villa mit einer massiven Eisentür wohnte, wo sie nicht wie wir, in
unserer ärmlichen Gegend, von lärmenden Nachbarn belästigt wurde.
Die Frauen des Viertels redeten schlecht über Sabah und nahmen auch vor den mit ihr verwandten Nachbarinnen kein Blatt vor den Mund. Ich hingegen hoffte, mithilfe dieser Verwandten eine Beziehung zu Sabah aufzubauen, um so ihren Strafen zu entgehen. Jene Strafen, deren Vorstellung allein mich bereits erzittern ließ.
Nach
der dreijährigen Mittelschule setzte sich unser Martyrium dann an der
Oberschule fort, aber nachdem ich mich an Sabah gewöhnt hatte, konnten
mich die Jugendausbilderinnen dort nicht mehr überraschen. Wer mich
hingegen schockierte war meine Mitschülerin Thana, die zu den
sogenannten “Fallschrimspringerinnen” gehörte, einer paramilitärischen
Organisation der Bath-Partei. Sie hatte nicht nur Macht über die
Schülerinnen und Lehrerinnen, sondern auch über den Schuldirektor und
seine Ehefrau. Niemand war so gewalttätig und rücksichtslos wie sie,
dabei war sie doch eine Schülerin wie wir.
Es
war ihr erlaubt, die Tür des Klassenzimmers aufzutreten und in den
Unterricht der Arabischlehrerin, einer charakterschwachen Person, die
Angst vor ihr hatte, hineinzustürmen. Dann forderte sie uns auf,
aufzustehen und den Leitspruch der Baath-Partei aufzusagen: “Eine
Arabische Nation, mit einer ewigen Mission.” Dann mussten wir die Ziele
der Partei wiederholen: “Einheit, Freiheit, Sozialismus”. Diese Sprüche
können alle Syrerinnen und Syrer auswendig.
Meine
Finger sind inzwischen wieder warm geworden und ich stehe auf, um das
Fenster erneut zu öffnen. Ich genieße diese Kälte, die mich in Zeit
willkürlicher Bestrafungen zurückversetzt hat, unter der wir
Schülerinnen und Schüler zu leiden hatten, ohne das wir uns etwas
Konkretes zu schulden hätten kommen lassen, und deren einziger Zweck
darin bestand, uns unterwürfig zu machen und zu demütigen.
Jetzt, wo Syrien in Trümmern liegt, frage ich mich: Liegt ein Fluch auf diesem Land? Waren die vielen Strafen, durch die damals unser Wille gebrochen wurde, Ausdruck desselben Fluches, der nun überall im Land in jedem Moment spürbar ist?
Was
haben wir Syrer getan, dass wir diese Bestrafung verdienen? Am Anfang
waren es die Vertretungslehrerinnen, dann folgten Jugenausbilderinnen
und “Fallschirmspringerinnen”. Zuletzt kamen Männer aus allen Teilen der
Welt um uns die bombardieren, uns zu töten, und uns eine Lektion in
Unterwerfung und blindem Gehorsam zu erteilen.
Maha Hassan